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Die Tage der ungesäuerten Brote

Aus dem Teig, den sie ungesäuert aus Ägypten mitgenommen hatten, backten sie Brotfladen. Sie hatten aus Ägypten aufbrechen müssen, noch ehe der Sauerteig zugesetzt war, und hatten auch keine Verpflegung für unterwegs vorbereitet.
.... Moses sagte zu den Israeliten: "Feiert jedes Jahr den Tag, an dem ihr aus Ägypten gezogen seid, und erinnert euch daran, wie der Herr euch mit starker Hand aus dem Land befreit hat, in dem ihr Sklaven gewesen seid. Eßt an diesem Tag kein Brot, das mit Sauerteig gebacken ist. Ihr zieht jetzt im Frühlingsmonat aus Ägypten fort. Wenn der Herr euch in das Land bringt, das er euren Vorfahren mit einem Eid zugesagt hat (...) ein Land, in dem Milch und Honig fließen -, dann sollt ihr jedes Jahr in diesem Monat das Fest der ungesäuerten Brote halten. Sieben Tage lang dürft ihr nur Brot essen, das ohne Sauerteig zubereitet ist, und am siebten Tag feiert ihr als abschließenden Höhepunkt ein Fest für den Herrn."
.... Mose, Exodus 12, 39; 13, 3-7
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.... Ereignisse in diesem Roman sind authentisch.
.... Zumindest hier soll ihnen ein Gedenken bewahrt werden.
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.... Kapitel 1
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.... "Achtung, Achtung! Balkan-Express Belgrad-München hat fünfzig Minuten Verspätung."
.... Alle Bänke sind besetzt, und so sitzen einige Reisende auf ihrem Gepäck, auf alten Mänteln, oder auf Zeitungen, ausgebreitet am Fußboden. Größtenteils schlummern sie. Die Luft im Warteraum ist warm, schwer und stickig, und der Zigarettenrauch windet sich um die Glühbirne an der Decke. Wird die Tür geöffnet oder zugemacht, so schaukelt und bewegt sich die Rauchwolke, um einer neuen, dichteren und dunkleren Wolke den Platz zu räumen. Der Zug kommt erst gegen Mitternacht.
.... Sieh mal, da in der Ecke ist noch ein Platz frei. Mehr schlecht als recht haben wir uns beide dort zusammengedrängt. Jetzt ist es schon viel besser. Es ist uns wärmer geworden, und der Schlaf schleicht sich ein. Die Augenlider werden immer schwerer und das angenehme, leichte Kribbeln in den Augen zieht einen unwiderstehlich in den Traum, ins Vergessen hinein.
.... Ich träumte von einer langen, grünen Hecke, hinter der Umrisse einer großen Parkanlage zu sehen waren. Wir halten vor einem hohen, eisernen Tor an. Die Frakturüberschrift in Lettern aus Messing kann ich nicht auf Anhieb lesen. Das Tor öffnet sich von selbst und Robert und ich treten in den gepflegten Park ein, beschreiten den gewundenen, mit roten Ziegelsteinen bepflasterten Pfad, zu beiden Seiten von jungen Kastanienbäumen umzäunt. Inmitten des Parks steht ein Haus aus Holzbalken und roten Ziegelsteinen, gleich jenem, das mir Alfred in jener Nacht dreiundvierzig gezeichnet hat, bevor sie irgendwohin Richtung Osten gegangen sind.
.... Am Hauseingang, als würde er uns erwarten, steht der Hausherr. Warum macht er aber so ein mürrisches Gesicht? Ist das Alfred? Ich glaube schon. Ich bleibe stehen. Habe ich mich geirrt? Nein, ich gehe nicht weiter. Er soll mir entgegenkommen. Ich gehe nicht weiter, bevor ich erfahren habe, ob er mich noch will.
.... Da höre ich: "Komm schon, Mutti!"
.... Das weckt mich. Ich schaue mich um, der Pfad ist nicht mehr da, und anstelle der ordentlich zusammengelegten Ziegelsteine sehe ich eine schmutzige Masse, auf der überall Zigarettenkippen und Abfälle liegen, eine zerdrückte Schachtel "Drava"-Zigaretten, Streichhölzer mit schwarzen, abgebrannten Köpfen, ausgetrocknete Schalen verschiedener Früchte und an der Wand fettige alte Zeitung. Vor mir bemerke ich zwei große Schuhe, von denen sich der eine bewegt hat.
.... "Beeil dich, Mutti!", höre ich wieder, hebe den Kopf und sehe Robert mit dem Koffer vor mir stehen.
.... "Achtung, Achtung! Ankunft Balkan-Express Belgrad-München. Bahnsteig zwei."
.... Der Bahnhof wimmelt von Reisenden und denen, die sie begleiten. Wir steigen die Stiegen zum Bahnsteig zwei hinauf. Alles um uns ähnelt einem Ameisenhaufen. Die Menschenwoge trägt uns. Den Bahnsteig zwei erreichen wir gleichzeitig mit dem Zug. Robert eilt voran, um vielleicht einen freien Platz zu finden. Schon von außen sieht man, daß alle Wagen gesteckt voll sind. Im Gang steht Mensch an Mensch. Unser Gepäck ist nicht schwer, so reiche ich es durchs Wagenfenster hinein: ein paar Tüten und zwei kleinere Reisetaschen. Den Koffer hat Robert schon hineingetragen.
.... Draußen ist es uns ziemlich kalt gewesen, hier drinnen im Waggon ist es aber heiß und schwül. Irgendwie gelingt es mir, mich zu meinem Sohn durchzudrängeln. Die Bilder aus dem Traum sind mir noch immer ganz frisch.
.... "Robert, ich träumte von Papa. Wir kamen auf sein Gut, und er stand am Haustor."
.... "Hast du noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, Mutti?"
.... "Der Traum war so schön. Ich wollte ihn dir erzählen. Es ist doch gut, wenn man zumindest im Traum etwas noch ein Mal erleben kann."
.... Vor dem Zug eine Menge Leute. Händeschütteln, Winken. Wir sind alleine gekommen, reisen auch alleine. Von unserem Verreisen weiß kein Mensch. Nachdem wir dort angelangt sind und uns zurechtgefunden haben, schreiben wir Briefe und erklären alles.
.... Von meinem Ehemann habe ich mich heute Nachmittag verabschiedet. Ich tat es, seinem Wunsch Folge leistend, in der gleichen Weise, wie ich es bei allen meinen Friedhofsbesuchen getan hatte: "Wenn ich sterbe, bring mir bitte keine Blumenkränze und -sträuße ans Grab, sondern immer nur eine Rose." So brachte ich ihm jedes Mal nur eine Rose. Auch heute. Ich sagte ihm, daß ich wegfahre und nicht weiß, wann ich wiederkomme. In Gedanken überflog ich all die Jahre unseres gemeinsamen Lebens. Jetzt scheiden wir voneinander. Zum dritten Mal. Vielleicht auch für immer. Abschiednehmen fällt einem immer schwer. Manchmal ist es sogar schwieriger, von den Toten als von den Lebenden Abschied zu nehmen.
.... Der Zug fährt leise und unhörbar ab, ich habe es kaum bemerkt. Schon am Vorabend hat der Nebel zu fallen angefangen. Jetzt ist er dichter geworden, hat die Stadt verhüllt. Nur vereinzelte Lichter tauchen aus dem Dunkel auf; als wäre jetzt der Himmel näher gerückt: hinter dem durchsichtigen, weißen Schleier zeichnen sich Lichter von unzähligen Sternen ab. Noch sind nur Lichter nahe dem Bahndamm zu sehen, aber auch die huschen immer schneller vorbei. Als würde Zagreb von mir weglaufen und in der Dunkelheit verschwinden.
.... Um den Fenster am Gang drängen sich ungeduldige Raucher. Ein vereinzelter freier Platz macht mich aufblicken. Bevor ich jedoch gefragt habe, höre ich schon: "Besetzt." Im Waggon alles jüngere Leute, Menschen von Kraft strotzend. Am Fenster des Abteils ein junges Paar, aneinandergelehnt, scheint zu schlummern. Man sieht aber, daß es nicht schläft, daß es eher in den Abend hinein träumt. Ihm gegenüber, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitzend, ein Mann in meinem Alter in einem abgewetzten Tuchanzug mit einem Abzeichen am linken Rockaufschlag. Im Abteil ist es heiß, trotzdem zieht er den Rock nicht aus, sondern hat ihn nur aufgeknöpft. Ja, ich erkenne sie wieder: die Leistungsabzeichnung, den Stolz der Brigadiere. Ich lese den Text, der darauf steht: "Autobahn Brüderlichkeit-Einheit 1950". Es ist einer von den Teilnehmern an den freiwilligen Arbeitseinsätzen der Jugend, einer von den Erbauern der Eisenbahnstrecken, der Autobahnen. Gebaut hat er in der fester Überzeugung, ein besseres Leben zu bauen, hat dabei seine Kräfte nicht geschont, man sieht es am Abzeichen. Die im Westen sollen wissen, daß er kein Faulpelz ist, der sich vor schwerer Arbeit drückt. Er hat gebaut, er hat gearbeitet, noch dazu freiwillig und ohne jegliches Entgelt. Von all dem ist ihm nun lediglich das Abzeichen übriggeblieben. Er ist arbeitslos: auch die, die von ihren Gehältern leben, kommen gerade so über die Runden. Jetzt will er es im Westen, im Kapitalismus versuchen, von dem wir in der Schule als einem System der Ausbeutung gelernt haben.
.... Am Boden Schalen und Butzen von Früchten, überall Unmengen von Kippen. Im Abfallkorb ein ungewöhnlicher Blumenstrauß: Zigarettenschachteln und Abfälle verschiedenster Art drohen, jeden Augenblick auf die Fuße der Reisenden niederzuregnen. Hin und wieder weht zu mir strähniger grauer Rauch von billigen Zigaretten, vermischt mit Zwiebel- und Schnapsgeruch. Mitunter habe ich Schwächeanfälle, hoffentlich werde ich durchhalten.
.... Warum sieht mich jener mit dem Leistungsabzeichen so an? Das Stehen wird mir zur Qual, ich wechsle von einem Bein auf das andere, lehne mich an die Wand an. Einige schlummern sogar so ein. Die Augenlider fallen zu, schwer wie Blei, und das Bewußtsein schwebt zwischen Traum und Wirklichkeit.
.... Könnte ich mich wenigstens für einen Augenblick setzen, um meine Kräfte zu sammeln. Mir schwindelt als würde ich Karussell fahren. Schließe ich die Augen, so wird es noch schlimmer, als würde sich der Waggonboden heben, als würde der Zug zur Seite kippen. Ich öffne die Augen und atme durch. Jener mit dem Abzeichen starrt mich unentwegt an, als ob er mir was sagen möchte. Ich wende mich ab, sein Anstarren stört mich. Er kommt aber zu mir, aus dem Augenwinkel kann ich es sehen. Auch höre ich, wie er mich anredet:
.... "Setz dich, Genossin, ich vertrete mir ein wenig die Beine. Vom langen Sitzen sind sie mir schon ganz steif geworden."
.... Ich will mich bewegen, aber meine Beine sträuben sich dagegen. Kräftige Arme fassen mich, ich rühre mich und dann die Erleichterung. Ich sitze, und mein Blick erkennt immer deutlicher Gesichter und Augen von Menschen, die mich beobachten. Das Gefühl der Erleichterung erfaßt den ganzen Körper. Dann höre ich wiederum die Stimme des Mannes mit dem Leistungsabzeichen.
.... "Hier, Genossin, nimm einen Schluck. Echt hausgemacht. Der würde einen Toten aus dem Grab holen."
.... "Ich danke Ihnen, mein Herr. Ich trinke nicht."
.... "He, dann mußt du ihn auf jeden Fall kosten. Damit du weißt was du vermißt hast. Von einem Schluck Sliwowitz lebst du wie ein Reh auf."
.... "Ich danke Ihnen, aber ich vertrage keinen Alkohol, habe nie auch nur einen einzigen Schluck getrunken."
.... "Aber geh, hab doch keine Angst, es ist kein Gift. Na, sieh mal mich!"
.... Er hebt die Flasche, tut einen kräftigen Zug, wischt die Flaschenöffnung mit der Hand ab, um die Flasche wiederum in meine Richtung zu reichen, und zwar so nahe an mein Gesicht, daß der Flaschenhals fast mein Kinn berührt.
.... Ich schrecke zurück, wende den Kopf ab, und meine Hand hebt sich zur Wehr.
.... "He, ein merkwürdiges Volk seid ihr Kroaten! Man will Ihnen helfen, und Sie murren!"
.... Unser Abendessen nehmen wir im Zug ein, weil wir es zu Hause aus Müdigkeit und Aufregung nicht geschafft haben. Wir essen Fladen und getrockneten Käse. Um Brot zu backen, hatte ich keine Zeit, auch gab es im Hause keine Hefe; von dem hastigen Packen war ich so erschöpft, daß ich mit letzter Kraft dies ungesäuerte Brot oder diesen Fladen, wie soll man es schon nennen, backen konnte. Etwas Mehl blieb übrig, und es wäre Schade, es verderben zu lassen.
.... Aus dem Koffer hole ich die Schuhschachtel mit den Fotos. Einige sind schon vergilbt, alle sind mir aber ans Herz gewachsen. Da ist auch meine Straße. Durch die Kronen junger Kastanienbäume in der Allee lugen das Ziegeldach und die helle Fassade unseres Hauses. Vor dem Tor steht Mutti und hält das Baby auf dem Arm.
.... Hier wuchs ich auf, sah die Knospen und weiße Blüten unserer Kastanien, die goldgefärbten Blätter im Herbst und die weißen Rauhreifkristalle um Weihnachten. Ich ging oft zum Bahnhof. Durch die angelehnte Tür hineinguckend, freute ich mich jedes Mal, als ich Papa über dem Arbeitstisch gebeugt sah. Sobald er mich bemerkt hatte, stand er auf, nahm mich bei der Hand und führte mich zu meiner Lieblingshenne. Da warf er eine Münze ein und jedes Mal wartete ich voll Angst und Freude, daß das Schokoladenei herausspringt.
.... Züge bringen immer etwas Neues, regen die Phantasie an, und beleben die Träume; Reisen, ferne Länder, verschiedene Menschen, neue Ereignisse. Während des Krieges, schon als erwachsenes Mädchen, sah ich Transporte von Soldaten. Auch von Zivilisten. Ja, gerade die Zivilistentransporte tauchen jetzt in meiner Erinnerung auf. Es waren diejenigen, die nach Deutschland zum Arbeitsdienst fuhren, die einen freiwillig, die anderen zwangsverschickt. Vergleiche drängen sich auf. Wir fahren auch nach Deutschland zur Arbeit. Es ist kein Krieg und niemand zwingt uns. Wir reisen mit dem Personenzug, und viele fuhren damals in Güterzügen, drängten sich um das Fenster, jenes kleine, vergitterte.
.... Fragen und Zweifel kommen in mir auf. Warum gehe ich, ist es richtig, was ich tue? Mein Sohn Robert hat sein Diplom gemacht, ist aber arbeitslos. Nach dem Tod meines Mannes sind wir fast mittellos geblieben. Für uns beide hat es weder einen Ausweg noch eine Hoffnung gegeben. Anderswo in der Welt werden vornehmlich Zeugnisse und Wissen verlangt, bei uns hier fragt man nach der politischen Vergangenheit. Es scheint jeder verdächtig zu sein, der nicht Parteimitglied ist, und diese machen lediglich zehn Prozent der Bevölkerung aus. Heißt das, daß neunzig Prozent der Bevölkerung verdächtig sind? Was für eine Zukunft erwartet ein Land, das dem Großteil seiner Einwohner mißtraut?
.... Ich schaue in die Nacht während der Zug rast. Staatsgrenze! Da hält der Zug etwas länger. Grenzbeamten kontrollieren die Pässe: der eine schlägt meinen Pass auf, sieht mich an, blättert zwei-drei Seiten durch, drückt den Stempel hinein, gibt mir den Pass zurück. Putzfrauen kehren hastig den Boden sauber, ziehen Schalen von Früchten und Gurken unter den Sitzplätzen hervor, schütten überquellende Aschenbecher aus. Dort drüben, in Österreich, ärgert man sich, wenn die Waggons nicht sauber sind.
.... Was geschieht mit mir dort drüben? Mit fünfundvierzig werde ich wiederum von vorne anfangen müssen. Ungewißheit, alles ist mir unbekannt. Weder ist es dort immer schön, noch ist es leicht, und oft müssen Ausländer das tun, was die Einheimischen nicht tun wollen. Mein Robert wird hoffentlich Arbeit in seinem Beruf finden. Ich in meinem Beruf sicherlich nicht. Juristin! Wer braucht mich schon dort? Bis wir uns zurechtgefunden haben, werde ich machen, was immer man mir anbietet. Kochen kann ich, waschen und bügeln auch.
.... Schatten fliegen am Zugfenster vorbei, sie fliehen in die Gegenrichtung. Als würden sie mir sagen: "Komm mit uns!" Dort, jetzt schon weit weg in der Nacht, bleibt alles, was wir gehabt haben. Wozu all das? Muß es eben so sein? Ich versuche, mich zu trösten: viele sind weggegangen, mehrere Hunderttausend. Dort sind sie nun vorübergehend beschäftigt. Man nennt es so. Wie wird es aber uns ergehen?
.... Erinnerungen sind das Einzige, was mir geblieben ist. Erinnerungen und Robert, mein Sohn. Ich betrachte die Bilder, und alles ist mir noch so nahe, als wäre es gestern geschehen; unser Haus und Mutti vor ihm, mich auf dem Arm haltend. Die Straße ist still, durch sie wird die Hauptstraße mit dem Bahnhof verbunden. Von der Hauptstraße bis zum Bahnhof säumen Kastanienbäume den Straßenrand. In gleichmäßigen Entfernung steht ein Baum an dem anderen, mit einer großen Krone, die jedes Jahr im Frühling von prächtigen Kastanienblüten übersät wird. Nur zwei Bäume fehlen, und zwar vor dem Haus unserer Nachbarn. Um zu verhindern, daß ihr Garten später einmal im Schatten der Bäume liegt, haben die Nachbarn kurz nach der Pflanzung der Bäume zwei von ihnen mit etwas begossen, so daß sie verdorrt sind. Die übrigen Kastanien sind zu schönen Bäumen geworden, deren Kronen einander berühren. Ich bin davon überzeugt gewesen, es sei der schönste Ort auf der ganzen Welt. Nur jene zwei leeren Stellen vor dem Nachbarhaus haben diese Schönheit beeinträchtigt, und dies hat meine Freude immer getrübt.
.... Jeden Kastanienbaum erkannte ich sogar mit geschlossenen Augen nach Form, nach der Rinde des Stammes und nach der Wurzel, die stellenweise, an Schwellungen, dicht am Stamm aus der Erde herausragte. Auf diese Schwellung pflegte ich mich zu stellen, als ich, dem Baumstamm zugewandt, mit geschlossenen Augen beim Versteckspiel bis zehn zählen mußte.
.... Gerne spielte ich Verstecken in der Abenddämmerung; noch immer erinnere ich mich an die ersten Berührungen im Spiel, als Boris dran war, uns zu fangen. Wir liefen, bis wir völlig erschöpft waren, schwer atmeten, unsere Knie wackelten, und wir Stiche unter den Rippen zu spüren begannen. Ich stehe am Baum, kann nicht mehr weiter. Boris fängt mich und greift nach meiner Hand.
.... "Du bist dran!"
.... Er läßt meine Hand nicht los, schaut mir in die Augen.
.... "Warum bist du so rot?"
.... "Laß mich doch los! Warum hältst du mich?"
.... Boris schweigt und hält noch immer meine Hand. Auch ich schweige, den Kopf gesenkt, ziehe die Hand nicht zurück, und eine angenehme Wärme strömt mir durch den ganzen Körper.
.... Dann höre ich Muttis Stimme:
.... "Komm, Lisa, es ist genug, bald wird es dunkel; was ist das heute mit euch, Kinder, soll euch noch die schwarze Köchin holen?"
.... Am liebsten würde ich zu Mutti sagen, daß ich mich vor der schwarzen Köchin nicht mehr fürchte; diese Zeit ist vorbei; nachdem ich den Druck seiner Hand gespürt hatte, dachte ich daran, wie mich Boris vor allem beschützen würde, auch vor dieser "gefährlichen" schwarzen Köchin.
.... Es wird Nacht, und ich stehe am Fenster, unsere stille, ruhige Straße betrachtend. Ihre Kastanienbäume stehen vor unseren Häusern als eine Reihe Wache haltender Riesen. Am Morgen, kaum aus dem Bett, schaue ich durchs Fenster und bemerke am Boden den Schatten der Kastanienkrone. Der Tag wird sonnig! Und wenn ich anstelle des Schattens den kreisförmigen, trockenen Flecken um den Baum erblicke, weiß ich, daß es in der Nacht geregnet hat. Unter den dichten Kronen spielen wir während der sommerlichen Hitze wie auch an Regentagen, sehr oft sogar, wenn es schneit.
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.... * * *
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.... Ich sehe Papa, wie er mit aufgezogenem Grammophon, mit Musik, morgens zu Mutti ins Zimmer kommt, weil sie sich sonntags einen längeren Schlaf als sonst gönnt. "Ach, immer höre ich ein und dieselben alten Platten", brummte Mutti. Dann pflegte sie Papas alte Sünden aufzuzählen und vergaß dabei nie Ilonka, die Wirtin vom Bahnhof. Als Papa den Radioapparat gekauft hatte, hoffe ich, kindlich naiv, daß Muttis Brummen aufhören wird.
.... In der Nacht, zufällig wach geworden, hörte ich auch weiterhin Muttis monotone Stimme. "Nie werde ich heiraten", gelobte ich mir.
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.... Mutti suchte irgendein Stück Wäsche in dem Wäschekorb, und ich war gerade dabei, den Schnitt für das Hosenrock-Frühjahrsmodell aus der Zeitschrift "Eva" auf Papier zu abzuzeichnen, als Papa hereinkam und, in seiner gewohnten Art, kurz sagte:
.... "Es wird Krieg geben! Im Rundfunk melden sie, die Straßen von Belgrad seien voll von Menschen, die rufen: "Besser Krieg als Pakt!"
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.... Wie vergilben nur diese alten Fotos, und dabei will es mir scheinen, als wäre das alles noch gestern gewesen. Auf dem Bild ist das halbzerstörte Wirtshaus am Bahnhof zu sehen. Nackte Wände, herausgerissene Fensterrahmen, und oben am Haus ragen entblößte Balken in den Himmel. Der Photograph hat an dem Foto sehr gut verdient. Alle haben wir das Foto von dem Haus gekauft, das von den ersten Bomben des Krieges in Jugoslawien getroffen worden ist.
.... Es war Sonntag, der 6. April 1941, früh am Morgen. Wir schliefen noch. Plötzlich donnerte es, als wäre irgendwo ganz in der Nähe der Blitz eingeschlagen. Es war aber ein heiterer Tag, weit und breit keine Wolke zu sehen. Flugzeugmotoren dröhnten. Am Ende der Straße, nahe dem Bahnhof, stieg eine Rauchwolke hoch in die Luft.
.... "Nicht in den Keller", schrie Mutti, "das Haus kann einstürzen!"
.... Wir legten uns im Hof hinter dem Brunnen auf den Boden und blieben lange so, ohne uns zu rühren. Überall um uns war es still geworden. Die Straße war leer, so weit das Auge reicht, nur der Junge, spöttisch von uns "Laß-du-mich-in-Frieden" genannt, ging mitten durch die Straße. Nur dies sagte er stets, wenn er nach etwas gefragt wurde, selbst dann auch, wenn ihn jemand nach seinem Namen fragte. Vom Bahnhof her wehte der Rauch. Und dann kamen jene, die Verwundete trugen. Während wir entsetzt all das beobachteten, schien es mir, auf Muttis Gesicht einen Anflug von Lächeln zu bemerken. Ihre Ahnungen erwiesen sich als richtig: die Bombe zerstörte das Haus gegenüber dem Bahnhof. Die Wirtin Ilonka kam dabei ums Leben, die hübsche junge Witwe, ein Dorn im Auge meiner Mutter und das ewige Thema ihrer nächtlichen Monologe, besonders nachdem sie erfahren hatte, daß die Witwe im Papas Magazin sehr oft ihr Gewicht kontrolliert. Das Maß wurde voll, als Papa einmal, ein Glas über den Durst getrunken, erzählte, wie die Wirtin nackt vor der Psyche steht um sich im Spiegel beobachtet, ohne vorher Gardinen zugezogen zu haben. Mutti verbat Papa, die Wirtin zu wiegen. Sie hatte sich sogar ein Fernglas angeschafft und verbrachte Stunden auf dem Dachboden, von wo aus sie das Magazin und das Wirtshaus kontrollierte.
.... Zwei-drei Tage nach dem Bombenangriff hörten wir das Dröhnen starker Motoren. Die Hauptstraße entlang fuhr eine Kolonne deutscher Panzer. Menschen standen auf dem Bürgersteig, winkten und warfen Blumen vor die Kettenräder der großen olivgrünen Panzer mit aufgemalten Kreuzen. Die Kroaten und die Dorfbewohner deutscher Herkunft waren überzeugt, es kämen Befreier und Retter von der Sklaverei und der großserbischen Tyrannei.
.... Lastkraftwagen fuhren auch in unsere Straße ein und hielten unter den Kastanienbäumen. Sie kamen so plötzlich: außer jenen Bomben hatten wir kein anderes Schießen gehört. Sie waren gekommen, als wären sie auf einem Ausflug. Soldaten traten in die Höfe ein, klopften auch an unsere Tür. "Guten Tag", grüßt ein Soldat und fragt, ob er Wasser aus dem Brunnen holen kann. Natürlich kann er, sagen wir alle wie aus einem Mund. Ist das der Krieg? Wird es keine Schießerei geben? Kanonen hüpften über die unebene Straße, und die Soldaten gingen schweigend neben ihnen.
.... Oft beobachtete ich, hinter der Gardine versteckt, deutsche Soldaten in den Lastkraftwagen unter den Kastanienkronen. Wie ordentlich sie nur sind! Früher stellte ich mir Krieger als düstere, müde, staubbedeckte, ja auch verschmutzte Soldaten vor. Diese aber sind ordentlich gekleidet, haben auch Kleider- und Schuhbürsten. Morgens beobachtete ich sie, wie sie sich am Brunnen wuschen, den Oberkörper entblößt. Sogar Zahnbürsten haben sie. Größtenteils sind sie jung, blond und hellhäutig, einige mit eintätowiertem Zeichen SS am Oberarm. Am Zaun hingen Soldatengurte mit großen, viereckigen Metallschnallen, auf denen "GOTT MIT UNS" geschrieben stand.
.... Durch das Dorf zieht der Dorftrommler, hält immer wieder von den Häusern an und liest die Kundgebung über die Gründung eines neuen Staates, der sich Unabhängiger Staat Kroatien nennt.
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.... Nach wie vor stellt für uns die größte Schwierigkeit die Nachbarin Bara dar, die jeden Tag unsere Hühner anbrüllt, welche über den Zaun auf ihre Wiese flattern. Sobald wir sie von fern sahen, wie sie mit dem Stock kam und schrie, zogen wir schnell eine Latte aus dem Zaun, damit die Hühner zurück in unseren Hof fliehen konnten. Schreiend, den Stock schwingend und mit ihm drohend, kam sie dicht an den Zaun, wir aber waren alle schon längst im Haus und beobachteten versteckt hinter der Gardine des Küchenfensters die wütende Nachbarin, wie sie nach den letzten Hühnern schlug, die noch nicht durch die Zaunöffnung geflohen waren. Man hörte das Krächzen der verängstigten Hühner und das unbarmherzige Schlagen des Stockes. Sie hatte unser liebstes Huhn, den besten Eierleger erschlagen. Oft schlich ich mich morgens in den Hühnerstall ein, um ein noch warmes Ei aus dem Nest zu holen. Ich sehe noch Bara, wie sie mein Huhn am Hals packt und über den Zaun in unseren Hof wirft.
.... Die Nachbarin Bara war ungewöhnlich dick und ging, als zöge sie ihre Füße aus dem Schlamm. Wir Kinder haben uns vor ihr gefürchtet, weil sie immer einen langen Stock mit sich trug und laut schrie.
.... Einen Tag vor Fronleichnam, als Papa spät am Nachmittag von der Arbeit nach Hause kam, sagte er kurz, noch in der Tür stehend:
.... "Bara ist gestorben."
.... Als man sie in der Sarg legte und ihn zudecken wollte, konnte man den Deckel nicht zunageln. Die Tote war so dick, und in der Hitze, welche in diesen Tagen herrschte, war sie noch dicker geworden. Der Priester war schon da, Verwandte und Nachbarn sammelten sich zum letzten Geleit, und sie, als würde sie allem und jedem zum letzten Mal trotzen, wollte nicht in den Sarg hinein. Ihre näheren Angehörigen waren verzweifelt. Da fanden sich jedoch einige Soldaten und boten ihre Hilfe an. Sie baten alle das Zimmer zu verlassen. Dann hörte man Bretter knarren und kurz danach auch Nägel einschlagen. Die Soldaten redeten etwas untereinander, was es aber war, das konnte niemand verstehen, uns so blieb es ein Geheimnis, wie die dicke Nachbarin Bara in den Sarg gebracht worden war.



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