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Die Tage der ungesäuerten Brote, Kapitel 3


Im Rundfunk wird gemeldet, daß die Deutschen schnell vorrücken, daß im belagerten Leningrad der Widerstand erlahmt und bei Stalingrad große Abschlußschlachten geschlagen werden. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, sagt man, und bald feiert das Reich den Endsieg.
.... Tante Marija erzählt, daß bei ihr in Slawonien Leute in den Wald fliehen und von dort aus deutsche und kroatische Soldaten angreifen.
.... "Das ist doch nichts", sagt Herr Oberst, leicht kriegen wir das sauber. Bald werden wir die Kommunisten in Rußland vernichten, und das hier ist dann eine Kleinigkeit.
.... Einige Menschen orthodoxen Glaubens und andere, die politisch verdächtig sind, wie auch Juden und Zigeuner führt man irgendwohin ab. Man spricht von Lagern, in denen Leute in Holzbaracken auf einem mit Stacheldraht umzäunten Gelände wohnen.
.... In einer Nacht führten sie Tante Marijas Nachbarn, den Glöckner Simo, der in der orthodoxen Kirche läutete, und auch Stevo, den Vorstand des Sokol-Vereins ab. Man munkelte, sie wären in irgendwelchem Tschetnik-Bund gewesen. An ihrer Abführung hatte in gewissen Sinne auch Onkel Mato teilgenommen. Zuerst wehrte er sich dagegen, indem er beteuerte, über jene Dorfbewohner nichts Schlimmes zu wissen. Dann aber, nachdem ihn einige Nachbarn von der Seite angesehen und ihm vorgeworfen hatten, er möchte sich heraushalten, schritt auch Tante Marija ein: "Du kannst dich ja nicht so absondern! Geh, komm mit und hilf unseren Leuten nach deinem besten Wissen und Können."
.... Onkel Mato kannte jedes Haus und jeden Hausbewohner nicht nur im Dorf, sondern auch in allen nahegelegenen Siedlungen. So half er denen aus der Stadt, die Menschen leichter zu finden, die auf ihren Listen standen. Man behauptete, diese sollten nur verhört werden, weil einige im Verdacht stünden, sich gegen die Regierung betätigt zu haben.
.... Am nächsten Tag, nachdem etliche abgeführt worden waren, verschwand eine bedeutende Anzahl von Orthodoxen, vor allem jüngere Menschen, aus dem Dorf. Man erzählte, sie wären in den Wald geflohen. Unter ihnen war auch der ältere Sohn des Glöckners, mein Altersgenosse Rade.
....
.... Immer öfter treffen merkwürdige Nachrichten bei uns ein. Ich versuche, mit Papa zu reden, er geizt aber mit Worten. Gewöhnlich winkt er nur ab und bemerkt: "Ach, laß das! Es ist besser, so wenig wie möglich darüber zu wissen." Soll ich Boris fragen?
.... Boris sieht mich an, und es scheint, als würde er zögern. Dann aber spricht er, ein wenig schleppend.
.... "Nun, einiges weiß ich. Möglicherweise weißt du es aber auch. Man sagt, das Volk erhebe sich, es kämpfe, um das Land zu befreien, um die Besatzer und Faschisten zu vertreiben."
.... "Glauben sie denn, daß sie gegen eine solche Macht ankommen können? Wie viele werden nur ihr Leben lassen, und was werden sie erreichen?!"
.... "Man sagt, daß sie in den Wald gehen und zwar Menschen aller Nationalitäten, auch Kroaten sind darunter. In Bosnien gibt es schon regelrechte Militäreinheiten von dieser Partisanenarmee. In diesem Sommer haben sie die Bahnstrecke Mostar-Sarajevo zerstört und in vielen Ortschaften haben sie schon ihre eigene Regierung. Sie nennen sich selber Volksbefreiungsarmee."
.... Während er mir das erzählt, scheint mir Boris ein anderer zu werden, als würde er sich verwandeln.
.... Gingen wir aus dem Kino, so geschah es oft, daß ich den Film sofort vergaß: stets vor Augen waren mir jedoch Bilder aus dem Journal. Auf Bilder von Angriffen der deutschen Luftwaffe folgen die von großen Panzern, die rücksichtslos Kornfelder und Anpflanzungen niederwalzten, dann Kolonnen von unrasierten und ärmlich gekleideten Männern, vorwiegend jüngeren, mit erhobenen Armen, und in jenen Gegenden des Landes, wo Partisanen sich aufhielten - Häuser in Flammen.
.... Heute Abend erscheint Boris wiederum nicht, obwohl er es versprochen hat. Wir sind schon dabei schlafen zu gehen, als jemand an die Tür klopft.
.... "Boris hat doch gesagt, er ginge zu euch", sagt sein Vater verwundert.
.... Nachts auszugehen wird immer gefährlicher. Die Polizeikontrollen werden strenger. In den Ortschaften um Zagreb wird die Polizeistunden von 21 bis 5 Uhr eingeführt. Alle zugereisten Personen müssen sich sofort nach Ankunft bei der Polizei anmelden. In den Wald kann man nur mit einer schriftlichen Sondergenehmigung.
.... Ich frage Boris, wieso er nicht gekommen ist.
.... "Ich half Papa, schrieb irgendwelche Gerichtsakte ab."
.... Ich wollte ihm nicht sagen, daß Papa an demselben Abend bei uns nach ihm gesucht hatte.
.... "Was hast du, warum schaust du auf einmal so ernst drein? Komm, wir haben schnell den Abend nachzuholen, der dich so nachdenklich stimmt."
.... Dies war nicht das einzige Mal, daß Boris nicht kam. Als ich erfuhr, daß er schon zwei Tage von Zuhause wegblieb, machte ich mir Sorgen. Die Frage quält mich: ist er vielleicht in Kozine, ist er möglicherweise zu Irma gegangen?
....
.... * * *
....
.... An jedem Sonntagmorgen, wenn die Sonne scheint, empfinde ich das als ein Sonntagsgeschenk der Natur, eine Feiertagsstimmung umfängt mich, eine besondere Heiterkeit und ein Gefühl der inneren Wärme.
....
.... Vor meinem Zimmerfenster, unter den Kastanienbäumen, stehen Lastwagen, jene geschlossenen, um die sich Soldaten sammeln: die einen stehen, an die Kotflügel der Fahrzeuge angelehnt, die anderen sitzen auf dem Trittbrett oder auf der Hinterseite der Wagen. Sie öffnen Konservendosen und essen.
.... Ich renne in die Küche und rufe, von der Schwelle aus, der Mutti zu:
.... "Mutti, kann ich den Soldaten einen Teller Essiggurken bringen? Wir haben doch so viel davon, daß wir ganz bestimmt nicht alles aufessen werden, und ich mag sowieso keine Essiggurken."
.... Mutti schaut mich zuerst etwas verwundert an, sagt aber dann:
.... "Na gut, wenn du es unbedingt willst, bring sie ihnen. Nimm die größere blaue Schüssel."
.... Meine Hände zitterten, als ich mich dem Lastwagen näherte. Selber weiß ich nicht, wie ich das geschafft habe. Noch lange danach hallte in meinen Ohren ihr Freudenschrei und ihr vielstimmiges "Danke schön, Fräulein" nach.
.... In die Küche eintretend, noch ganz verwirrt, stieß ich beinahe mit unserem Mieter, dem Leutnant zusammen. Er sprach mit Mutti darüber, ob man irgendwo, in einer der Ecken der Herdplatte, neben unseren Töpfen, etwas Kartoffeln für sie kochen könnte. Schon öffnete ich den Mund, um zu sagen, daß ich es tun werde, Mutti war jedoch schneller.
.... "Jawohl, Herr Leutnant, wir kochen Kartoffeln für Sie."
.... Mutti ging zur Messe und überließ mir das Kartoffelnkochen. Ich beschloß, den Herren Offizieren keine gewöhnlichen Kartoffeln zu kochen, sondern sie mit Kartoffeln zu überraschen, die ich auf unserem hausgemachten Speck rösten und zum Schluß mit zerlassener Butter übergießen werde.
.... Ich zerlasse die Butter, salze und übergieße damit die Kartoffeln, koste davon, es schmeckt himmlisch. In der Eile, weil der Leutnant jeden Augenblick erscheinen kann, um die Kartoffeln zu holen, fasse ich den heißen Topf mit bloßen Händen an. Irgendwo in der Mitte des Weges zwischen Herd und Tisch rutscht mir der heiße Griff aus der Hand und alle Kartoffeln landen auf dem Boden. Gerade in dem Augenblick klopft es an der Tür. Ganz verwirrt, rufe ich zuerst:
.... "Ja", und dann schnell: "Nein, einen Augenblick, bitte", es war aber schon zu spät.
.... In der Tür steht der Leutnant, sieht mich lächelnd an, senkt dann den Blick zu den Kartoffeln auf dem Boden, macht zuerst ernste Miene, bricht dann aber in lautes Lachen aus.
.... "Sind das unsere Kartoffeln, Fräulein?"
.... Etwas Unverständliches stotternd drehte ich mich um, verbarg das Gesicht in den Händen und fing zu weinen an.
.... "Aber Fräulein, so viele Tränen wegen ein paar Kartoffeln? Wenn Sie zu weinen aufhören und mich nur für einen Augenblick anschauen, schlage ich Ihnen etwas vor, was unser gemeinsames Geheimnis bleiben wird. Wir haben etwas Zeit, weil die Herren Offiziere noch nicht gekommen sind. Nur bitte, ohne diese unnötigen Tränen. So schöne Augen dürften nie weinen."
.... Erleichtert und dankbar schaute ich zu ihm empor. Ermutigt durch meine Lage und durch meine Haltung, zog er das Taschentuch aus der Innentasche und fragte:
.... "Darf ich, Fräulein Lisa?"
.... Das war das erste Mal, daß er meinen Namen aussprach. Er wischte mir die Tränen ab. Beide lächelten wir, lasen dann schnell die Kartoffeln vom Boden in den Porzellanteller auf.
.... Lange Zeit sah ich immer wieder dieses Bild vor mir: der Leutnant und ich hockend am Boden und zwischen uns dampfende Kartoffeln und der Geruch von geröstetem Speck.


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