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Die Tage der ungesäuerten Brote, Kapitel 8


Auf der Rückseite der Photographie hatte Mutti geschrieben: aufgenommen 1935 in der IV. Klasse der Volksschule. Zwei Schüler stechen von den übrigen Schülern dadurch ab, daß sie barfuß sind, Ana, die dritte von links in der ersten Reiche, und Mischko, der Sohn des Fuhrmanns, seitlich in der letzten Reiche.
.... Ana lebt am Dorfende, ein paar Häuser entfernt von der Mühle. Seit sie alleine ist, verläßt sie kaum noch ihren Hof. Sie ist in Schwarz gekleidet, geht mit gesenktem Haupt und verweinten Augen umher, schaut wie eine Greisin aus. Menschen meidet sie, geht ihnen aus dem Weg. Eine stille, ruhige Frau mit schönem, traurigem Gesicht und großen, braunen Augen, verborgen unter dem schwarzen Kopftuch, in das sie sich tief hineinzieht, als möchte sie sich vor den Menschen verstecken.
.... Als sie sechzehn war, warf der Schuster Joso sein Auge auf sie, sie jedoch wich ihm aus solange sie es konnte. Joso war kein schlechter Kerl, aber er zog ein wenig ein Bein nach, was ihm später zugute kam - er mußte nicht zum Militär. Jener kleine Buckel am Rücken wäre auch nicht so auffällig gewesen, wenn er nur ein wenig aufrechter gegangen wäre.
.... Josos Eltern hatten ein schönes Gut, er aber lernte Schuster. Was er auf diese Weise verdient hatte, gab er denen, die seine Äcker pflügten, weil er das selber nicht tun konnte.
.... Ana hatte ihre geheime Liebe, der Junge war aber arm wie eine Kirchenmaus. Anas Eltern hatten für sie eine Entscheidung getroffen: "Du wirst Joso heiraten, bei ihm wirst du nicht am Hungertuch nagen müssen. Daß er einen Watschelgang hat, wirst du später gar nicht bemerken. Man gewöhnt sich leichter daran als an den Hunger. In diesen schweren Zeiten, meine liebe Tochter, soll man ans Überleben denken. Die Liebe ist nicht für uns Arme, sie ist etwas, was sich nur die Reichen gönnen können.
.... Ana sieht ihre Eltern, wie sie sich halbhungrig im Hof herumschleppen, wie sie das Stückchen unfruchtbarer Erde umpflügen, das sie mit soviel Kartoffeln beschert, wieviel sie gepflanzt haben und folgt dem Wunsch der Eltern.
.... Der Krieg nimmt von Tag zu Tag neue Männer aus dem Dorf, Joso jedoch bleibt da. Er ist zwar ein wenig aufsässig und stets schlechter Laune, mit der Zeit gewöhnt man sich aber an so ein Gemüt. Ana läßt er nicht aus den Augen, überwacht jeden ihrer Schritte; er ist krankhaft eifersüchtig. "Was will der schon wieder?" fragte Joso Ana, wenn er sie im Gespräch mit dem Nachbarn Ivo ertappt hatte. "Wieder braucht er den Häufelpflug, nicht wahr? Warum schafft er sich endlich nicht selber einen an? Der leiht ihn von mir geschliffen und gibt ihn mir dann stumpf zurück, so daß ich das Dengeln und Schleifen selber bezahlen muß. Und außerdem, was hast du so zu lächeln, wenn du mit ihm sprichst? Mich lächelst du nie so an", ärgerte sich Joso und bewachte eifersüchtig jede ihrer Bewegungen, achtete genau auf jedes Wort, das Ana zu jemanden sagte. So kleinwüchsig, wie er nun einmal war, dazu noch gebückt gehend, schien er viel kleiner als Ana. Sie gingen nie gemeinsam aus. Oft lag Ana, von einer inneren Unruhe gequält, bis spät in die Nacht wach im Bett, sich von einer auf die andere Seite walzend, während Joso laut schnarchte. Nachdem sie das Essen gekocht hatte, pflegte Ana zu Joso in die Werkstatt zu gehen, wo sie schon von der Tür aus stets das gleiche Bild sehen konnte. Im halbdunklen Raum sitzt Joso auf dem runden Dreifuß, gebeugt über einen alten Schuh, mit der Sohle nach oben gewendet, einen Hammer in der Rechten und einen winzigen, weißen Holznagel in der Linken, oder auch mit einer krummen Nadel um einem Schusterdraht in der Hand. Am Tischrand liegt ein Stückchen geritzten Schusterpechs, das Joso lange über den Draht hin und her zieht, so tuend, als würde er die in der Tür Stehende überhaupt nicht bemerken. Um ihn auf dem Boden und am Gestell liegen alte Schuhe übereinandergeworfen, einen üblen Geruch im Raum verbreitend. Ana sah Joso gewöhnlich nur beim Mittagessen, weil er morgens früh aus dem Bett war, während sie noch schlief, und abends fiel er wie ein Sack ins Bett und schlief wie ein Murmeltier.
.... Über Tscherkessen gehen solch grausame Gerüchte um, daß es uns den Atem verschlägt, wenn wir sie hören. Man erzählt von Greueltaten, die sie an Frauen verüben. Auch tagsüber, manchmal schon im Morgengrauen, kreuzen sie auf und schauen sich nach Frauen um. Jung oder alt, da machen sie keinen Unterschied, wählerisch sind sie nicht. Sie stürzen einfach in den Hof, und man hört dann nur noch lautes Geschrei der Frauen.
.... Die Tscherkessen kamen auch in unser Dorf. Auf einmal sind alle Straßen leer, die Frauen stehen nicht mehr wie gewöhnlich angelehnt an die Zäune, noch hocken sie auf den kleinen Brücken vor dem Hoftor; sogar in den Höfen ist niemand zu sehen. Haustore werden sorgsam abgesperrt, und an den Fenstern dicke Vorhänge zugezogen.
.... Im Dorf erzählt man schauderhafte Geschichten, wobei das beileibe nicht alles ist. Viele Frauen verheimlichen nämlich das Geschehene, um sich nicht bis auf die Knochen zu blamieren. Nur Marischka hatte keine Angst. Man sah sie auf dem Pferd, vor einem Tscherkessen sitzen, umherreiten.
.... Die Sonne ist untergegangen, man soll eilig die täglichen Arbeiten verrichten und sich möglichst bald im Haus einsperren. Ana schöpft Wasser. Über den Brunnenrand gebeugt, hat sie den leeren Eimer in der einen Hand, und mit der anderen hält sie den Bodenrand des Eimers, der an der Kette hängt und gerade mit Wasser vollgeschöpft worden ist . Ihr scheint, als käme jemand in den Hof, und genau in dem Augenblick, als sie sich umdrehen will, drückt ihr ein kräftiger Arm den Kopf nach unten, so daß sich ihr Körper noch mehr über den Rand des Brunnens neigt. Die Füße berühren nicht mehr den Boden, und beinahe stürzt sie hinein. Der Eimer fällt ihr aus der Hand und platscht ins Wasser. Darüber erschrickt sie noch mehr, die Angst schnürt ihr aber die Kehle zu, und sie kann keinen Laut über die Lippen bringen. Einen starken Arm spürt sie an ihren nackten Schenkeln und gewaltige Knie drängen sich zwischen ihre Beine. Der muskulöse Körper drückt sie an die Brunnenwand, und sie schwebt nun mit dem Oberkörper im Brunnen, während der Unterkörper an der Außenwand des Brunnens herabhängt. Es drückt sich an sie, der robuste Männerleib, und sie versucht sich zu befreien, jede ihrer Bewegungen scheint jedoch den Halunken nur zu ermuntern. Ein Muskelprotz ist es, ein Kerl wie ein Baumstamm. Er hat sie ganz bedeckt, so daß Ana, so winzig wie sie ist, unter ihm fast völlig verschwunden ist. Was er vorgehabt hat, ist ihm auch gelungen, und jetzt fängt er an wie wild seinen Unterleib zu bewegen. Die wackelige Brunnenwand knarrt verhängnisvoll. Dann aber kommt das Unvermeidliche: der Leib bezwingt die Seele, Ana hält für einen Augenblick inne, ermattet, wie leicht umnebelt, dann aber fängt ihr Körper sich zu krümmen und zu winden an wie eine Weidenrute in der Hand eines übermütigen Knaben. Der Tscherkesse merkt das, faßt sie mit dem einen Arm um die Taille und greift mit dem anderen nach ihrem Busen. Wie im Rhythmus eines merkwürdigen Tanzes winden sich die zwei Körper immer heftiger...
.... Plötzlich hebt Ana die Lider, vor ihren Augen leuchtet der Brunnengrund auf, und die Wasserringe vom hineingefallenen Eimer haben sich geglättet. Da taucht Joso in der Haustür auf. Mit aufgerissenen Augen sieht er das Treiben am Brunnen, das Blut schießt ihm zu Kopf, und er läuft zum Holzverschlang, das linke Bein stärker als sonst hinter sich schleppend. Die in den Hackstock eingeschlagene Axt zieht er heraus, stürzt zum Brunnen und schwingt die Axt. Ana kreischt auf, der Tscherkesse springt in letzter Sekunde zur Seite, und die Axt bohrt sich in den Balken auf der Brunnenwand ein. Joso versucht sie freizubekommen, doch der Tscherkesse ist schneller, greift zur Pistole und feuert mehrere Schüsse nacheinander ab. Joso schnellt hoch, als ob er sich recken möchte, greif dann nach Ana, an ihr Halt suchend, sein Körper aber gleitet von ihr ab und streckt sich am Boden.
.... Entgeistert starrt Ana um sich, von irgendwo her Hilfe erwartend. Am Fenster des Nachbarhauses erblickt sie einen neugierigen Kopf, der jedoch eiligst hinter der Gardine verschwindet.


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