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Die Tage der ungesäuerten Brote, Kapitel 7


Heute Abend bleibt Alfred etwas länger weg, das paßt mir aber, weil ich noch ein wenig allein sein will. In Gedanken begleite ich Tante Marija, wie sie mit meinem 'Ja' von uns weggeht, mit diesem Wort, das vielleicht Boris seine schweren Stunden erträglicher machen würde. Ich blättere in der Zeitung "Hrvatski Narod"* vom 4. Januar 1943. Einige Titel scheinen sich von Nummer zu Nummer zu wiederholen: jene über Erfolge an der Front und über Säuberungsaktionen in den Wäldern gegen die kommunistischen Banditen. Plötzlich bemerke ich den Artikel über das Verbot, sich an Bahnstrecken aufzuhalten. Die Vorschriften über das Betreten der Bahnstrecken sind verschärft worden. Laut Verordnung der Staatskommission für Sicherheit im Eisenbahnverkehr wird Privatpersonen die Annäherung an Bahnstrecken in einer Entfernung von 300 Metern untersagt.
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.... * "Hrvatski Narod" = "Kroatisches Volk" (Anm. d. Ü.).
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.... Alles hohe Gewächs, Gebüsch und alle Bäume um den Bahndamm sind abgeholzt worden, weil aus diesen Hainen die Partisanen öfter angegriffen haben. So sind viele schöne Wälder, ja sogar Obstgärten und Ziersträucher vernichtet worden.
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.... Ich stehe am Fenster und schaue in die Nacht hinaus. Der Mondschein glänzt auf dem Schnee, und es ist so hell, als ob der Tagesanbruch nahe wäre, dabei ist es erst gegen Mitternacht. Bei dem Gedanken, die Russen könnten kommen, schrecke ich zusammen.
.... Mit offenen Augen liege ich im Bett. Im Frühling müssen wir das Zimmer anstreichen, es ist schon ziemlich verschmiert. Was aber, wenn die Russen kommen? Vielleicht zünden sie inmitten des Zimmers ein Lagerfeuer an. Es fällt mir jedoch der rettende Gedanke ein: Boris! Möglicherweise kommt er vor den Russen. Er ist doch irgendwo hier in dem naheliegenden Wald, kommt den Berg herunter, klopft an die Tür, und wir sind gerettet. Dann aber überlege ich: was geschieht, wenn Boris sagt: "Da habt ihr sie, Towarischtschi, die hat sich in einen Schwaben verliebt, macht mit ihr was ihr wollt."
.... Dort irgendwo, weit weg von hier, ereignet sich Neues. Dunkle Ahnungen sind nicht mehr zu verdrängen. Nachts hört man Schüsse, Schnellfeuer von Maschinengewehren und vereinzelte, dumpfe Explosionen.
.... "Diese Waldbanditen werden immer frecher", kommentiert das Der Herr Hauptmann.
.... "All das werden wir im Frühling säubern. Keiner bleibt verschont", fügt der Herr Oberst selbstbewußt hinzu.
.... Früh am Morgen bemerke ich eine ungewöhnliche Betriebsamkeit unter den Soldaten. Sie kommen mit Wasserkannen in den Hof, die Motorhauben der Lastwagen sind auf, die einen gießen Wasser in die Kühler ein, die anderen basteln an dem Motoren herum. Die Kälte hat ein wenig nachgelassen, hin und wieder läßt sich die Sonne blicken.
.... Um Mittag fing der Südwind den Schnee aufzutauen an. Der Schneemann am gegenüberliegenden Straßengraben neigte sich zur Seite. Sein Kopf stand nun schräg zum Körper, und in der linken Augenhöhle fehlte das Stück Kohle. Jetzt sieht er wie ein zufällig aufgekreuzter Wanderer aus, der mit dem einen übriggebliebene Auge und dem geneigten Kopf aufmerksam die Vorgänge beobachtet. Der Topf ist bis zu seinem Auge herabgesunken, und der alte Besen ragt anstelle des Armes heraus. Die Karottennase hängt an der Oberlippe. Mehrere Knöpfe sind von seinem Bauch gefallen und liegen im Schnee um ihn herum.
.... Eine Gruppe Soldaten bemerkt den Schneemann. Mit Schneebällen zielen sie auf ihn. Ein Ball trifft ihn auf den Kopf. Der Topf fällt runter, der Kopf neigt sich noch mehr zur Seite und ein wenig nach hinten, als würde der Getroffene ihn heben, um Ausschau zu halten, wer ihn in seiner Ruhe stört. Der nächste Ball trifft ihn auf die Nase. Die Karotte fliegt weg, der Kopf rutscht am Leib herunter und fällt zu Boden. Es bleibt nur noch ein Häuflein Schnee übrig, neben ihm der alte Besen und einige Stücke Kohle.
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.... Schon lange bin ich wach, es kann bereits Mitternacht sein. Gegen Abend habe ich das Bernsteinhündchen zuunterst in Alfreds Tasche versteckt zusammen mit der Notiz, es soll ihn beschützen. Auch habe ich ihn darin gebeten, mir nicht böse zu sein.
.... Auf einmal scheint es mir, als würde ich leise Schritte im Flur hören. Gewöhnlich schläft zu der Zeit schon alles im Hause. Ich schleiche mich aus dem Bett und nähere mich der Tür. Die Schritte halten vor meiner Tür an. Ich höre das Atmen dicht am Türholz und dann das leise Flüstern:
.... "Lisa, mach auf!"
.... Alfred ist im Schlafanzug. Erstmals sehe ich ihn ohne Uniform. Als wäre es ein anderer Mensch.
.... "Lisa, ich bitte dich, nur auf einen Augenblick! Morgen früh fahren wir weg."
.... Gekommen ist das, wovor ich schon lange Angst habe. Hilflos sinken meine Arme an meinem Körper herunter. Alfred tritt ein und macht die Tür zu.
.... Wir setzen uns auf den Bettrand. Schweigend betrachten wir einander. Alfred streichelt mein Haar, zieht meinen Kopf an den seinen, ich spüre die Berührung seiner Lippen. Eine bisher unbekannte Gänsehaut läuft über meinen ganzen Körper, und ich fange zu zittern an. Er drückt meinen Kopf an seine Schulter, und ich umarme ihn fest. Zum ersten Mal.
.... "Alfred, bitte, nicht!"
.... Er sieht mich an, steht dann auf, ordnet seinen Schlafanzug und sagt leise nur:
.... "Verzeih mir, Lisa! Gute Nacht!"
.... Zur Tür gehend, drehte er sich um, als wollte er mich noch einmal sehen. Ich brach in Tränen aus.
.... "Alfred, gehe nicht! Ich habe Angst!"
.... "Man darf nicht weinen. Davon kriegt man Falten im Gesicht und die Augen verlieren ihren Glanz. Wenn der Krieg zu Ende ist, gehen wir zu mir nach Hause. Wir bauen uns ein schönes neues Heim ..."
.... Er setzte sich zu mir, erzählte von unserem künftigen gemeinsamen Leben, zeichnete für mich das Haus, gebaut aus ineinandergeflochtenen Holzbanken und Zierziegelsteinen, um das Haus Gebüsch, Kieferbäume und eine Kastanienallee.
.... "Ich möchte, daß du auch dort die Kastanien sehen kannst, damit es für dich schön wird, wie es hier ist."
.... Die Zeichnung auf den Nachttisch stellend, erhob er sich und wollte gehen.
.... "Komm zu mir. Ich will dich noch einmal sehen, wenigstens noch einmal berühren", sagte ich leise.
.... Er kehrte zu mir zurück und setzte sich wieder. Diesen Blick und diese Augen werde ich nie vergessen. In seinen Augen lag eine unergründbare Tiefe, ähnlich dem fernen Grund eines tiefen Brunnens, von dem man nur den Schimmer der Wasseroberfläche bemerken kann. Ich verspürte plötzlich den Wunsch, in diese Tiefe einzutauchen, eins zu werden mit dem fernen Grund, um dort für immer zu bleiben, darin zu verschwinden.
.... Seine Finger kraulen mein Haar, berühren mein Gesicht, meinen Hals, meine Schultern, als möchte er sich jede Biegung meines Körpers einprägen. Ich spüre einen angenehmen Schwindel, als würde ich ohnmächtig werden. Meine Augen schließen sich, und das warme, süße Beben durchströmt meinen Körper. Ich fühle Alfreds Körper, spüre seine Hände an meiner Taille. Meine Augen und meinen Mund überschüttet er mit Küssen, die wie süßschmerzliche Narben brennen, aber den Wunsch nach noch stärkerem Schmerz in mir regen. Ich umarme ihn, ziehe seinen Kopf an meinen Hals, vergrabe meine Finger in seinem Haar, und dann übermannt es mich. Die Berührung und den Druck seines Körpers verspüre ich, den süßen Schmerz und jenen großen Schrei, den man nur einmal erleben kann. Am liebsten würde ich mich auflösen, ihn in mir aufgehen lassen, damit wir für immer vereint bleiben. Nun sind wir ein Wesen, nur wir zwei, alles um uns ist verschwunden... Seligkeit und Beruhigung wallen in mir auf, ich sehe ihn lächelnd an, und er trocknet mir die Träne auf der Wange. Ich schlief auf Alfreds Arm ein.
.... Als ich aufwachte, streckte ich den Arm nach ihm, aber Alfred war nicht mehr da. Auf dem Nachtkästchen stand das Bernsteinhündchen und neben ihm die Notiz:
.... "Das Hündchen flüsterte mir zu, es möchte bei dir bleiben. Auch ich komme bald zurück und gehe dann nie mehr fort. Ich liebe dich, Lisa, ich liebe dich sehr! Dein Alfred."
.... Unter den Kastanienbäumen fuhren bereits die letzten Lastkraftwagen los, und bald war die Straße öd und leer.


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