Die Tage der ungesäuerten Brote, Kapitel 6
Am Tag vor dem Weihnachtsabend kommt Tante Marija. Am linken Arm trägt sie ein geflochtenes Körbchen, mit einem weißen Tuch bedeckt, und das dunkle Kopftuch hat sie ins Gesicht gezogen. ....
"Guten Tag, Lisa!" ....
"Um Himmels willen, Tante, was bringt Sie zu uns bei dem Wetter?" ....
"Er hat mich gebeten, zu dir zu kommen. Hier, steckt das irgendwo hin, damit es niemand sieht. Ich soll nicht seinen Namen nennen, hat er gesagt." ....
Wir gehen ins Haus. Die Tante bringe ich zur Mutti in die Küche, und ich eile in mein Zimmer. Leise schließe ich die Tür ab, setze mich aufs Bett und betrachte den weißen Umschlag. Nicht einmal ein Buchstabe steht darauf. Eigentlich ist es ein gefaltetes Blatt Papier, mit Mehl und Wasser zusammengeklebt. ....
Liebe Lisa, ich glaubte, es wird mir leichter ums Herz sein, nachdem ich weggegangen bin. Es wird für mich jedoch immer schwerer, je größer die Entfernung und je länger die Zeit wird, die uns auseinanderbringen. Ich bin überzeugt, daß ich es nicht mehr lange ausgehalten und vielleicht etwas Unbedachtes getan hätte. Auf jeden Fall wäre ich weggegangen, nur wäre es wahrscheinlich viel später gewesen, weil man mich auch hier braucht. So habe ich den Genossen vorgeschlagen, mich in den Wald zu bringen. ....
Ich weiß, daß ich mit diesen wenigen Worten den Lauf der Dinge nicht ändern kann. Ich bin dir nicht böse. Auch will ich dir nicht raten, auf dich Acht zu geben, weil ich das für überflüssig halte. Nun aber, was auch geschehen mag, verzeihe ich dir im voraus. Man kann nicht immer das tun, was besser wäre, nicht einmal für sich selber kann man es tun, weil die Umstände allzu oft so sind, daß sie uns mit sich ziehen wie ein anschwellender Fluß den erschöpften Schwimmer. ....
Hier haben wir es nicht leicht. Es ist kalt, Die Nahrungsmittel sind knapp, oder es kommt nicht selten vor, daß wir überhaupt keine haben. Mehr darüber kann ich dir nicht schreiben. Jetzt ist es schwer, und wir können kaum den Frühling abwarten, um unsere Frostbeulen zu heilen, die uns das Bewegen im Schnee immer mühsamer machen; na, dann werden wir die feindlichen Stützpunkte stürmen. Auch mit der Nahrung wird es leichter sein, da wird es frisches Gras geben, das zur Not den Hunger stillen kann. Die Hoffnung auf einen baldigen Sieg macht uns jedoch Mut. Hier erreichen uns die Nachrichten von der Ostfront. Die Deutschen bei Stalingrad sind umzingelt, der entscheidende Schlag ist ihnen versetzt worden. Nichts anderes bleibt ihnen übrig, denjenigen, die es noch können, als baldmöglichst dorthin zu fliehen, wo sie auch hergekommen sind. ....
Wenn es mir am schwersten ist, ermutigen mich der Gedanke an die Rückkehr nach Hause und die Hoffnung, daß wir wie damals unsere Allee entlang spazieren werden. ....
Auch eine kurze, mündlich überbrachte Botschaft von dir würde mich freuen. Ich erwarte nur deine Antwort auf die Frage: freut es dich, daß ich von mir hören ließ? Ein einfaches "Ja" würde mir neue Hoffnungen machen... ....
Bin nicht ich schuld an seinen Leiden? ....
Der gefrorene Schnee knistert unter den Füßen der Passanten. Schon dunkelt es, und ich habe es gar nicht gemerkt, wie schnell der Nachmittag vergangen ist. ....
Im Flur höre ich Schritte und dann Muttis leise Stimme: ....
"Vielleicht ist sie eingeschlafen. Gestern haben sie etwas länger Karten gespielt." ....
"Ich schlafe nicht, Mutti. Da komme ich schon." ....
Tante Marija steht vor mir mit dem Korb am Arm und dem nun ein wenig höher gezogenen Kopftuch, so daß Licht auf ihr Gesicht fällt. Sie schaut mich fragend an. ....
Beim Abschiednehmen, schon in der Tür, gelang es mir für einen Augenblick, meinen Kopf fast an ihr Kopftuch anlehnend, ihr leise zuzuflüstern: ....
"Sagen Sie ihm nur Ja, Tante Marija." ....
Sie lächelte, nickte und ging die Straße hinunter zum Bahnhof, irgendwie lebhafter und fröhlicher als sonst, oder schien es mir nur so. Als ich sie bereits aus den Augen verloren hatte, schaute ich unentwegt weiter in die Richtung und hörte das Knirschen ihrer Schuhe im Schnee. Es klang wie ein sich stets wiederholendes "Ja", "Ja", "Ja", "Ja" ... ....
....
* * * ....
....
"Boris ist nun schon viel länger bei der Großmutter auf dem Lande als ursprünglich gedacht", sagt Mutti. ....
"In diesen Kriegszeiten ist es besser, wenn man über bestimmte Dinge so wenig wie möglich weiß", erwidert Papa und, um das Gespräch zu beenden, greift er nach der Zeitung, setzt sich an den Ofen und nickt bald ein. ....
Die Zeitung gleitet langsam aus seinen Händen und landet schließlich auf dem Boden. Mutti fährt auf und zischt verärgert: ....
"Ach, du Teufel!" ....
"Was, was?" stottert Papa, aus dem Schlaf aufgeschreckt. ....
"Wieder bist du eingeschlafen. Komm, leg zuerst diese Zeitung weg und dann kannst du schlafen, so lange du willst. Jedes Mal erschrecke ich darüber." ....
"Ich schlafe doch nicht, sondern schlummere nur ein wenig", wehrt Papa ab und liest die Zeitung auf. ....
"Ach so. Du schläfst nicht! Umso schlimmer! Das heißt dann, daß du absichtlich die Zeitung zu Boden wirfst", scherzt Mutti ein wenig bissig. ....
Kaum hat das Gespräch sein Ende genommen, schlummert Papa weiter, und die Zeitung gleitet wieder in Richtung Boden. Ich will sie ihm nehmen, aber Mutti hindert mich daran. ....
"Tus nicht, sonst weckst du ihn. Er soll nur schlummern." ....
....
Das Kartenspielen geht mir nicht von der Hand. Ich bin zerstreut, und meistens schweige ich. ....
Als wir einen Augenblick alleine bleiben, greift Alfred nach meiner Hand. ....
"Lisa, wenn es möglich ist, möchte ich wissen, warum du so mißgelaunt bist." ....
Ich fasse mich schnell: ....
"Ich weiß, Alfred, daß du hier nicht für immer bleiben wirst. Wenn du erfährst, daß ihr wegzieht, willst du es mir sagen?" ....
"Das erfährt man im letzten Moment, Lisa. Aber sobald ich etwas gehört habe, werde ich es dir sagen. Jetzt würde ich lieber nicht davon sprechen. Wenn ich auch weggehe, werde ich in meinen Gedanken stets bei dir bleiben, und wenn all das zu Ende gegangen ist, wird uns nichts mehr auseinanderbringen können." ....
Immer seltener redet man vom Sieg und vom nahen Ende des Krieges. Alfred scheint mir nachdenklich geworden zu sein. Stimmt das, was mir Boris schreibt, daß die Deutschen bei Stalingrad eine schwere Niederlage erlitten haben und daß ihnen nichts anderes übriggeblieben ist, als dorthin zu flüchten, wo sie hergekommen sind? Was wird geschehen, wenn man sich an ihnen rächen würde? Was geschieht, wenn die Russen siegen. Nein, das darf nicht geschehen, das wäre das Ende nicht nur für Alfred, sondern auch für uns alle, die wir deutscher Herkunft sind. Ich erschaudere bei dem Gedanken an die russische Panzer, die unsere Straße entlang dröhnen, an die russischen Lastkraftwagen, die unter unseren Kastanienbäumen halten, an die russischen Soldaten, die von diesen Wagen springen, in unsere Häuser eindringen und... ach, nein, nein, nur das nicht. ....
Als ob er meinen Gedanken folgen würde, sagt Alfred, mich zu trösten versuchend: ....
"Mach dir keine Sorgen, das dauert nicht mehr lange. Die Ereignisse an der Front entwickeln sich so, daß das alles nicht mehr lange währen kann. Im Frühling, sobald dieser Winter vorbei ist, wird bald alles sein Ende nehmen." ....
Ach, dieser Frühling! Auch Boris erwähnt den Frühling und hofft auf einen schnellen Sieg. ....
....
Dichte Schneeflocken flattern. Im Winter sind wir tagsüber in dem größten Raum, in jenem, der zum Hof hinausgeht. Wir wärmen uns an dem sogenannten Trommelofen. Es ist eine Art Zentralheizung in Kriegszeiten. Man heizt ihn morgens ein, und er brennt den ganzen Tag bis spät in die Nacht, so daß er noch am nächsten Tag warm ist. Eigentlich ist das eine Blechtonne. Jeden Morgen füllt sie Papa mit Sägemehl auf, das er im Sägewerk billig kauft. Das trockene Mehl fängt schnell Feuer und verbrennt allmählich, je nach Luftzufuhr, die man unten, am Ofenboden, regulieren kann. ....
Ich erinnere mich an einen solchen Winteranfang, als ich noch sehr klein war. In der Tür erschien ein unbekanntes Weib mit einem tuchbedeckten Körbchen. Sie stellte das Körbchen auf den Stuhl ab, zog das Tuch weg, und ich erblickte zwei winzige Hündchen. Damals bekam ich meinen Wolfi. Es gab Schwierigkeiten, weil ich beide Hündchen haben wollte. Ich konnte mich einfach nicht entscheiden, welches von den beiden ich nehmen sollte. Dann aber entschied ich mich doch für das Weiße mit schwarzen Pfoten. Es sah aus, als würde es Schuhe anhaben. ....
Mutti beschloß, das Hündchen würde drüben, im alten Holzhaus, seinen Platz haben, ich dagegen wollte unbedingt, daß es mit uns ist und bei mir schläft. ....
"Wir machen ihm dort ein schönes Bettchen. Es kriegt auch diese dicke Wollweste", sagte Mutti. ....
Die Weste half, mich für Muttis Vorschlag umzustimmen, weil ich gespannt war, wie Wolfi aussehen wird, wenn man ihm Muttis große Weste anzieht. Es schneite immer heftiger. Ich war froh, daß Wolfi die Veste kriegt und es warm haben wird. Unbedingt wollte ich, daß man ihm die Weste anzieht, und dies war wiederum ein Grund zum Streit mit Mutti. ....
"Hast du schon irgendwo einen Hund in einer Weste herumlaufen gesehen?" fragte Mutti. ....
Zuerst behauptete ich, so was gesehen zu haben, war aber nicht ganz sicher, Mutti jedoch lachte nur. Dann lachte auch ich, und so kamen wir überein, die Weste am Boden beider Tür auszubreiten, damit Wolfi darauf liegen und die draußen vorbeikommenden beobachten kann, weil Hündchen sehr neugierig sind. Die Freude währte allerdings nicht lange. Kaum hatten wir den Hund dort gelassen, biß er die Zähne in ein Ende der Weste hinein und fing mit dem Köpfchen heftig nach links und nach rechts zu schütteln, so daß die Weste mal in der mal in jener Richtung flog und ich es mit der Angst bekam, er würde die Weste zerreißen. ....
Ich spielte gerne mit Wolfi. Als er mich kommen sah, zog er an der Kette, an der angebunden war, und fing ungeduldig zu winseln an. ....
An einem Morgen fand ich ihn tot. Er lag auf jener nun schon ausgefransten Weste. Jemand hatte ihn vergiftet. Es stimmt schon, nachts bellte er manchmal und weckte uns, und dann hörten wir, wie ihn der Nachbar vom Fenster aus beruhigte, besonders im Sommer, wenn man bei geschlossenen Fenster nicht schlafen kann. ....
Papa grub am Rain ein Loch in die Erde und legte Wolfi hinein. Ich deckte ihn mit seiner Weste zu, während Papa die Erde aufhäufte und einen kleinen Grabhügel machte. Auf dem Hügel wollte ich ein Kreuz aufgestellt haben, Papa war jedoch dagegen. Beruhigt hatte ich mich erst, als er versprach, ein Denkmal aufzusetzen. Er stellte ein Stück Beton darauf und schrieb darauf WOLFI. ....
....
Der Hof war schon ganz vom Schnee bedeckt, und am Brunnen und am Zaun lagen weiße Kränze wie aus winzigen weißen Blümchen Geflochten. Die übriggebliebenen Kohlköpfe im Gemüsegarten setzen weiße Kappen auf und erinnerte mich an den Tag meiner Erstkommunion, als wir Mädchen so in einer Reihe in weißen Kleidchen und mit weißen Kränzlein auf den Köpfen gestanden waren. Damals wurde ich zum ersten Mal mit Blitzlicht fotografiert. Ich drückte die Augen zu und befürchtete, später auf dem Foto geschlossene Augen zu haben. ....
Hans kommt die Straße herauf mit einem großen Tannenbaum auf der Schulter. Alles ist schon in Weiß, und die Kastanienkronen sind mit Rauhreif bedeckt. Der Schnee knirscht unter den Schuhen, und anstelle von Fuhrwerken gleiten jetzt Pferdeschlitten leise durch die Straße, begleitet durch das Geläute von Schlittenschellen. ....
"Guten Tag, Frau Müller, guten Tag, Fräulein Lisa", grüßt Hans. ....
"Stellen Sie die Tanne dort an das Fenster. Hier haben Sie den Ständer, auch die Säge ist da, wenn Sie sie brauchen. ....
Die Tanne ist viel zu hoch und zwischen Zimmerboden und -decke nicht aufzurichten. Hans legt sie auf den Boden, sägt geschickt ein Stück vom unteren Ende ab, stutzt ein wenig die Spitze, hobelt die untere Seite mit dem Messer ab und setzt die Tanne in den dreibeinigen Ständer ein. Er stellt sie ans Fenster, so daß man sie auch von der Straße aus sehen kann. Heute Abend werden wir den Weihnachtsbaum schmücken. ....
Schon früh am Morgen hat Alfred von irgendwoher einen Karpfen gebracht. Heute wird nach katholischem Brauch kein Fleisch gegessen, es ist Fasttag. Zum Abendessen bereitet Mutti den Karpfen in Paprikasoße und Salzkartoffeln in Butter. ....
Aus dem Schrank hole ich die Schachtel mit dem Christbaumschmuck. Ich bessere die gerissenen Schnürchen aus, einige Kügelchen sind zerdrückt worden, die kleinen, roten Lebkuchenherzchen, schon einige Jahre alt, sind jedoch unbeschädigt geblieben. Den Schmuck für die Tannenspitze ist unten angeschlagen, die Stelle werden wir aber zur Wand drehen. ....
Der geschmückte Tannenbaum, beworfen mit Flachsseide, sieht wie schneebedeckt aus. ....
"Frohe Weihnachten", Lisa! wünscht mir Alfred und überreicht mir ein Geschenk, verziert mit einer goldfarbenen Schleife. ....
Ich öffne das Päckchen und erblicke zuerst zwei winzige, schimmernde Äuglein, dann das braune Köpfchen und begreife schließlich, daß es sich um ein Bernsteinhündchen handelt. ....
Das Hündchen ist ein Familienamulett. Alfred bekam es von seiner Mutter, als er in den Krieg zog. Es sollte ihn beschützen und heil nach Hause bringen, um dann wieder seinen Platz in der Vitrine zwischen anderen Figürchen aus Meißner Porzellan einzunehmen. "Trenn dich nie von ihm, Alfred, er wird dich in jeder Situation schützen", hatte ihm seine Mutter beim Abschied gesagt. "Er beschützte deinen Opa in Afrika und auch deinen Papa im Ersten Weltkrieg". ....
Das Geschenk gefiel mir, doch wollte ich es ihm zurückgeben. Ich bat Alfred, es mitzunehmen, damit das Hündchen ihn schützt. Als Alfred darauf nicht einging, beschloß ich, es heimlich zuunterst in sein Gepäck zu verstauen, bevor sie aufbrechen. ....
Am Weihnachtsabend, nach dem Abendessen, am geschmückten Tannenbaum und bei angezündeten Kerzen erzählen wir vom Volksglaube, der mit der Weihnachtszeit verbunden wird. In der Heiligen Nacht, während der Mitternachtsmesse, kann man alle Dorfhexen sehen - mit Hilfe eines hölzernen Schemels, den man binnen vierzig Tage vor Weihnachten händisch und ohne Nägel anfertigt. Auf diesen Schemel stellt man sich hinter die letzte Reihe der Kirchengänger während der Messe, und zwar nach der Verwandlung. Alle Frauen, die Hexen sind, stehen dann mit dem Rücken zum Altar, so daß man ihre Gesichter sehen kann. Das wird immer zu Weihnachten erzählt, und da besprechen wir jedes Jahr allen Ernstes, wie wir im kommenden Jahr ganz bestimmt den Schemel rechtzeitig anfertigen werden. Vielleicht würden wir so auch die immer mit mürrischem Gesicht herumlaufende Opankenschusterin sehen, über die im Dorf schon seit Jahren allerlei Gerüchte im Umlauf sind; keiner hat sie je lachen gesehen, stets blickt sie finster drein, und in ihrem Blick steckt eine unheimliche Kraft, so daß es besser ist, den Kopf abzuwenden, wenn sie einen anschaut. Man behauptet, ihr Blick würde sogar den stillenden Müttern ihre Milch versiegen lassen. Am Weißen Sonntag stehen alle Weiber möglichst früh auf und bewachen gut ihre Hausschwellen. Legt nämlich die Opankenschusterin ihre Zaubereien unter die Schwelle, so wird in diesem Haus alles schief gehen. ....
So ist die Nachbarin Pepa zu Silvester gegen Mitternacht zum Ackerrain gegangen und will dort genau um Mitternacht Hochzeitsmusik, das Schluchzen von Frauen, Feueralarm und alles andere gehört haben, was im kommenden Jahr geschehen wird. ....
....
Die Silvesterfeier wurde im Offiziersklub veranstaltet. Das Kleid hatte ich mir selber von Muttis altem, goldfarbenem Brokatkleid aus der Vorkriegszeit genäht. ....
Als würde es jetzt geschehen: wir treten in den feierlich geschmückten Saal ein, das Orchester spielt Tango, Glühbirnen leuchten in Lampions, die durch lange, bunte Bänder miteinander verbunden sind. Außer der leisen Musik hört man nur noch das Rascheln der Kleider und die Schritte der ankommenden Gäste; die Tische sind zum Abendessen gedeckt, auf hohen, geschliffenen Gläsern schimmert der Widerschein der Lampions in verschiedenen Farben: rot, gelb, blau..., die Farben hüpfen über das glänzende Glas, als würden sie in Kreisen um die Gläser einander jagen. Das ist mein erster Ball. Alfred hat die neue Uniform an, erinnert mich an die jungen Götter aus der griechischen Mythologie, und die Silvesterfeier mutet mich wie ein Fest auf dem Olymp an. ....
Durch den Saal ertönen die Klänge von "Lili Marleen". Als würden wir auf den Flügel der Musik schweben: der Saal dreht sich in seiner Farbenpracht um mich herum, und mit ihm drehen sich Bänder und Luftballons, während Alfred leise singt: ....
Aus dem stillen Raume, aus der Erde Grund ....
hebt mich wie im Traume dein verliebter Mund... ....
Um Mitternacht knallen die Sektkorken. Alfred umarmt mich, küßt mich und wünscht uns, daß wir das nächste Neue Jahr 1944 wie auch alle danach in seiner Heimat zusammen feiern. ....
Wir stehen am Fenster, um das Feuerwerk besser sehen zu können. Die westliche Seite des Himmels, in Richtung Zagreb, ist voll erleuchtet von Raketen, die wie Trauben vordem dunklen Hintergrund heruntergleiten und auseinanderprasseln, begleitet vom Schnellfeuer der Maschinengewehre und da und dort von einer stärkeren Explosion. ....
Das Feuerwerk legt sich, und wir kehren alle an unsere Tische zurück. Oben auf der Bühne liegen noch immer Instrumente auf den Stühlen, weil die Musiker im unteren Teil des Saals am geöffneten Fenster stehen, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Man hört nur das Gewisper der fröhlichen Gäste, die einander gratulieren, zuprosten und ein baldiges Ende des Krieges wünschen. ....
Ein älterer Offizier kommt auf Alfred zu und flüstert ihm etwas ins Ohr. Alfred nickt, der Offizier geht zur Bühne und bittet um Ruhe; das Gewisper hört auf, und er läßt uns wissen, daß uns während der Pause, die man den Musikern doch gönnen muß, Leutnant Alfred am Klavier spielen wird. Die Ansage wir mit begeisterten Beifall begleitet. Alfred flüstert mir zu: ....
"Das für dich." ....
Auf der Bühne dreht er sich zum Saal hin und sagt: ....
"Beethoven und meine Kleinigkeit, 'Für Elise'." ....
Viele Köpfe drehten sich zu unserem Tisch, und ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht strömte, wie meine Wangen brannten, als wären sie dicht am heißen Ofen. Das Gefühl der Freude verdrängte jedoch alles andere. Fast unbemerkt flogen die leisen Klänge des Anfangs von dieser mir so lieben Melodie durch den Saal, dann aber folgten die kräftigen Passagen mit größeren Sprüngen in der Intensität, als würde etwas aus dem ruhigen Schlaf erwachen, als würde der wilde Strom der Gefühle alles überschwemmen, so daß ich jeden Tastendruck als die Berührung von Alfreds Fingern an meinem Körper spürte, und eine angenehme Wärme breitete sich in meinem ganzen Wesen aus. Wie verzaubert starrte ich Alfred an und hörte die Musik, ohne mich um die Blicke von den Nachbartischen zu kümmern. Ich lies auch die Tränen, die über mein Gesicht glitten, in meinen Schoß fallen. Dies war der entscheidende Augenblick, in dem all meine Zweifel verschwanden. Ich begriff, daß ich Alfred liebe, daß ich ohne ihn nicht mehr leben könnte.BR>
.... ....
Lange lag ich wach, das Bild Alfreds am Klavier vor Augen und die Klänge von "Für Elise" in den Ohren. Dann auf einmal erinnerte ich mich an das Klavier. Ja, ich kenne es, das ist doch Juttas Klavier. Immer, wenn wir beide alleine geblieben waren, sangen wir eine von unseren Lieblingsmelodien, nur für uns, und sie begleitete uns am Klavier. Einmal, es war um die Weihnachtszeit, bat ich sie, ein Weihnachtslied zu spielen. Sie antwortete, daß sie keine kenne und daß es außerdem den Nachbar nicht angenehm wäre, aus einem jüdischen Haus eine katholische Melodie spielen zu hören. Am Ende gelang es mir aber doch, sie zu überreden, ich sang ihr leise zwei-dreimal vor, und dann spielte sie "Das Jahr ist jung"*, ja wir sangen sogar zusammen. ....
---------- ....
* "Na tom mladom ljetu" = altes kroatisches Weihnachtslied (Anm. d. Ü.). ....
---------- ....
"Schön sind eure Weihnachtslieder, sagte Jutta. Weißt du, manchmal sehne ich mich nach eueren Bräuchen, besonders wenn ich den schön geschmückten Tannenbaum sehe." ....
"Du kannst doch zum Christentum übertreten. Einige haben das getan. Wenn es ein Karl Marx tun konnte, kannst du es auch. Auch Christus war Jude, und der heilige Johannes der Täufer taufte ihn im Jordan, als Jesus schon erwachsen war. Außerdem gibt es viele andere, bekannte und unbekannte, die dasselbe getan haben. Ich nenne dir nur unsere Lieblinge, Heine und Schumann. Fügt man dann einen Großteil der Bibel, das ganze Alte Testament, hinzu, das von den Juden übernommen worden ist, hast du die Berührungspunkte unserer Religionen." ....
"Unser Talmud liegt mir so am Herzen, daß ich ihn durch nichts ersetzen könnte. In ihm findet man nicht nur Glaubensgeschichten, sondern auch Erklärungen zahlreicher Stellen aus der Bibel, religiöse und weltliche Bräuche von uns Juden neben Abhandlungen aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen", erwiderte Jutta zum Bücherregal aufschauend, wo auf sichtbarem Platz einige dicke, in dunkles Leder eingebundene Bücher standen und fuhr dann fort: "Vielleicht geht dieses Unheil, das jetzt Europa verwüstet, an uns vorbei, vielleicht wird auch der Messias rechtzeitig erscheinen. Uns Juden haßt und verfolgt man seit Jahrhunderten. Worin liegt aber unsere Schuld? Die Hoffnung auf die Erlösung gibt uns allein die Kraft, denn der Messias wird bestimmt kommen, und kein Mephisto wird ihn besiegen können, nicht einmal Samiel selber, oder Luzifer, wie er von euch Christen genannt wird." ....
Das war mein letztes Gespräch mit Jutta. ....
....
Ich schlief erst gegen Morgen ein und träumte davon, wie ich an einem langen Stacheldrahtzaun entlanggehe. Ich komme, um jemanden zu besuchen, kann mich aber nicht erinnern, wer es ist. Auch kann ich den Eingang in das umzäunte Gelände nicht finden. Weit in der Ferne, in der Dämmerung jenseits des Stacheldrahtes, sehe ich eine Menge Leute, alle schwarz gekleidet, die Männer haben schwarze Hüte auf und die Frauen tragen schwarze Kopftücher, Mützen oder Schals. Langsam bewegen sie sich in einer breiten Kolonne. Ich gehe an der Kolonne auf ihren Anfang zu und erblicke weit vorne ein kleines Gebäude, so klein, daß darin fünf bis sechs Menschen Platz finden könnten. Oberhalb der Tür steht etwas geschrieben, ich kann es aber nicht deutlich sehen. Mit Mühe erkenne ich die Buchstaben; nur drei sind es. Als würde es BAD heißen, dann aber erzittert das B und sieht mal als B mal als H aus. An dem Häuschen steht ein Klavier. Alfred sitzt daran und spielt. Sofort erkenne ich die Melodie: Beethoven, Sonate in A-moll, Opus 26 - der Trauermarsch. Der langsame Rhythmus der Melodie und das Geräusch von Schuhen auf einem geschotterten Pfad, das diesem Rhythmus folgt, schmelzen zu einem grausamen Klang zusammen. Dann bemerke ich Jutta. Sie trägt das Kleid vom letzten Schultanz. Aufmerksam schreitet sie voran, vor sich auf den Boden starrend, als würde sie auf den Rhythmus ihrer Schritte achtgeben. Die Kolonne verschwindet hinter der Tür des kleinen Gebäudes. Vor der Tür ziehen sie die Kleider aus und treten nackt hinein. Ich richte jetzt meinen Blick nur auf Jutta, sehe sie ihr Kleid aufknöpfen und langsam ausziehen, alles nach dem Rhythmus des Trauermarsches. Sie läßt das Kleid zu Boden sinken und schreitet weiter splitternackt. Ihr Haar fällt auf die wohlgerundeten kleinen Schultern, und zwei Haarsträhnen spielen auf ihren Brüsten, hin und wieder die Brustwarzen verdeckend. Jutta ist nun bis zur Tür angelangt, so daß ich ihre ganze Gestalt sehen kann, ihren schönen kleinen Rücken, die enge Taille, die runden Hüften und Schenkel und die prächtigen langen Beine. Ich möchte davonlaufen, kann aber kein Bein rühren. Meine Hände halten sich noch immer am Stacheldraht fest, die Stacheln dringen schon ins Fleisch ein. Abwechselnd schaue ich zu Alfred und zu Jutta. Alfred spielt noch immer im gleichmäßigen Rhythmus, und Jutta nähert sich dem Eingang. Die Frage quält mich: kann Alfred Jutta sehen? ....
Als ich aufwachte, tastete ich zuerst meine Handflächen ab und stellte erleichtert fest, daß sie heil und glatt sind.
|